Einige erinnern sich vielleicht noch an den Reisebeitrag über Juist. Da habe ich damals nämlich die Großeltern mit der Enkelin hingeschickt und der Beitrag über deren Reise ist bei euch eingeschlagen wie eine Bombe. Seither ist allerdings schon wieder einiges an Zeit vergangen. Heute gibt es aber Nachschub vom Opa! Viel Spaß beim lesen.
Ich bin ein Ossi. Das klingt dumm und scheint auch nicht hierher zu passen. Es setzt mich vielleicht immer noch dem Verdacht aus, relativ einseitig und aus einer linken Ecke heraus zu trompeten, was ich nicht bei mir behalten kann.
Dani weiß nicht, dass ich in der Absicht schreibe, meinen Text in ihrem Blog wiederzufinden. Sie weiß auch nicht, dass ich überhaupt schreibe, über sie und die Kinder und über die Zeit, in der wir gerade leben. Nach einigen Monaten Abstinenz war ich heute Nachmittag wieder einmal zu Gast auf ihren Seiten und gleich ein wenig erschrocken. Sollte man sich so tief in die Seele blicken lassen? Es schien mir alles zu persönlich, zu intim geworden und ich fühlte mich unbehaglich.
Ich wurde so erzogen, dass man seine Probleme und Bedenken, selbst die Problemchen, zunächst und manchmal ausschließlich mit sich selbst austrug, die anderen hatten schließlich auch welche. Es gehörte aber auch dazu, dass man daran gewohnt war, mit einem Mangel an allem Möglichen zu leben, Klopapier ausdrücklich ausgenommen.
Die DDR war dafür bekannt, nicht ausreichend Bettwäsche für die Bevölkerung zur Verfügung zu haben. Sofern es Bettwäsche zu kaufen gab, schlugen alle unbarmherzig zu – und schon wieder gab es keine. Als meine Oma starb, fanden wir im Wäscheschrank 18 noch ungeöffnete Packungen Bettwäsche, jeweils zwei Garnituren. Die meisten konnten nicht mehr verwendet werden, denn Baumwolle muss regelmäßig gewaschen werden, damit sie nicht brüchig wird. Und es gab für den gelernten Ossi noch etwas, viel Wichtigeres: Man musste improvisieren können, ständig auf neue Situationen reagieren können, das Beste daraus machen. Ossi eben.
Dani hat nun so eine Art Corona-Tagebuch der Familie eröffnet, angekommen sind wir bei Woche drei. Hinter Hilf- und Ratlosigkeit scheint kräftig der Wille durch, der Situation Herrin zu werden, ein wenig jammern gehört halt dazu. Das hat mich nun wieder beeindruckt. Durch verschiedene Medien konnte ich erfahren, dass wenigstens ein Teil der Menschen darunter leidet, nichts „Wichtiges“ erledigen zu können.
Viele Menschen hätten gern etwas Wichtiges zu tun, denn das Zu-Hause-Bleiben und die Kinder bei Laune halten und aushilfsweise zu beschulen scheint zu banal, um wichtig zu sein. Dabei ist es in diesen Tagen tatsächlich das dringend Notwendige, was uns zu tun bleibt.
Vor meine Eigenschaft des Ossi-Seins hat sich seit knapp 20 Jahren die Opa-Eigenschaft geschoben, mit der Möglichkeit, die großväterliche Liebe ungebremst ausleben zu dürfen. Auch das ist seit mehreren Wochen vorbei.
Wir hatten der Rakete, wie Dani unsere jüngste Enkelin zu nennen pflegt, in Lissabon ein Lätzchen sticken lassen. Das liegt frisch gewaschen auf ihrem Kinderstuhl und wartet auf seine immer noch fröhliche Besitzerin. Unser erstes Videotelefonat – man kann es auch skypen nennen – war schon dramatisch: Kaum hatte sie uns erkannt, lief sie auch schon zur Wohnungstür, quasi mit den Schuhen in der Hand, und wollte wie gewohnt mit uns spazieren gehen…
Mindestens einmal wöchentlich zieht unser großer Enkel mit einem Einkaufswagen für uns durch den Supermarkt, neben seinem Vater, der einen Einkaufswagen für seine Familie schiebt. Szenen wie aus einem Bilderbuch, die uns unvergesslich sein werden.
Danis Gedanken zu dieser verrückten Zeit regten mich zu Nachforschungen darüber an, wie man früher mit ungewöhnlichen Situationen umging. Es mag sein, dass diese verrückte Zeit nicht dazu geeignet ist, sich mit der Erforschung des Vergangenen zu beschäftigen. Ich sehe das anders, auch ich habe jetzt viel Zeit.
Zeitreise – zurück ins 16. Jahrhundert
Die Dimension der gegenwärtigen Gesundheitskrise mit all ihren Folgeerscheinungen ist sicher unvergleichlich. Die Art und Weise, mit derartigen Krisen umzugehen, ist es nicht unbedingt, wie folgendes Beispiel belegen kann.
Das 16. Jahrhundert war im Havelland u.a. dadurch geprägt, dass die Pest in wahren Wellen durch das Land zog. 1526 begann man damit, ungelöschten Kalk beim Begräbnis über die Leichen zu streuen. Zehn Jahre zuvor waren allein in der Neustadt Brandenburg 1400 Menschen an der Pest gestorben, was sich in neun großen Wellen bis 1625/1626 wiederholte.
1576 kostete „Arznei wider die Peste“ in der Brandenburger Apotheke mehr als 2 Taler. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Apotheke schon fast 50 Jahre. Ihr Hauptumsatz bestand allerdings in fremdländischen Gewürzen und Confekt. Wir wissen leider nicht, woraus die erwähnte Arznei bestand. Wir wissen aber, dass sie nicht wirkte, genau so wenig wie jene Wacholderbeeren, die am 14.April 1577 in der Apotheke „zur Zeit der Pest (pestilenz)“ geholt wurden, für den Preis von 3 Silbergroschen. Damit wurden die Räume der Domherren des Domkapitels Brandenburg ausgeräuchert. Man glaubte, dadurch die schlechte und krankmachende Luft beeinflussen zu können. 1607 wurde „1 guten Gr. gezahlt für Wacholderbeeren zu räuchern in der Kapitelsstube“. Die Jahre vergingen, die nutzlosen Praktiken blieben.
Irgendwann stießen auch die Totengräber an ihre Grenzen und verweigerten sich: Im Jahre 1606 wurden „4 Taler an die Totengräber gezahlt, dass sie das an der Pest gestorbene Mädchen beim Karpwehr aus dem Haus gebracht und begraben haben.“ Das war ein Vielfaches des sonst üblichen Lohnes. Ein Bote des Domkapitels erhielt 20 Silbergroschen für einen Besuch „während der Pest (im sterben) zum Herrn Dechanten und Herrn Valentin Pfuel“ – das Fünffache.
Die Medizin als Wissenschaft war noch nicht so weit, als dass man Ratten und Flöhe als Verbreiter der Pest erkennen konnte, die Infektionswege waren nicht bekannt. Man hatte eine schwache Ahnung und wer es sich leisten konnte, versuchte Abhilfe zu schaffen: Am 5. Dezember 1607 wurden „5 Taler an die Tüncher gezahlt, die die Stuben und etliche Kammern zu Mötzow, weil etliche an der Pest darin gestorben sind, verputzt (ausgeputzet) und geweißt haben“.
Nur die Reichen konnten es sich damals leisten, eine Auszeit zu nehmen. Der Dechant (Vorsteher des Domkapitels) Ernst von Burgsdorff vermerkte z.B. im Register der Kapitelprotokolle: „Dieses Register hat sollen im Jahr 1577 zu Sept. 29 berechnet werden, weil wir aber wegen der gräulichen Seuche der Pest nicht beieinander abstimmen konnten, ist solches verschoben und Feb. 28 im Kapitel im Jahr 1578 berechnet worden“.
Andere versuchten ihr Heil in der Flucht: 1566 erregten die Bürgermeister der Altstadt Brandenburg großen Unmut in der Bürgerschaft, weil sie vor der Seuche in ihre Weinberghäuser auf den Schwarzen Berg bei Radewege flüchteten. Das geschah mit Billigung des Kurfürsten, der den Brandenburger Schöppenstuhl als oberste Rechtsinstanz am Leben erhalten wollte.
Irgendwann, sehr spät, kam man zu der Erkenntnis, dass man die Kontakte zwischen den Untertanen einschränken, sogar verbieten musste, wollte man die Pest abhalten.
Am Mittwoch, dem 20. Februar das Jahres 1583 trafen sich die Herren des Domkapitels Brandenburg „auf der Rose“, ihrem gewöhnlichen Versammlungsort, um Kapitel zu halten. So nannten sie es, wenn sie Dinge besprachen, welche die laufenden Angelegenheiten betrafen, oder wenn sie Streitfälle zu schlichten bzw. Sünder zu bestrafen hatten.
An diesem Tag hatten die Domherren über Kaspar Jutte, „Paurßman (Bauer) zu Garlitz“, zu urteilen. „der in der gefährlichen Pestzeit zu Rathenow des Kapitels Befehl zuwider sich in die Stadt begeben und Erbgut daraus geholt und nach Garlitz in sein Haus gebracht hat, dadurch leichtfertig, wofern es Gott nicht verhütet, nicht allein die Seinigen, sondern wohl die ganze Gemeinde in Garlitz hätte können angesteckt (vergiftett) werden“. Die Tat war nicht zu leugnen und so wurde ihm „auferlegt, dass er wegen solchem seinen Ungehorsam dem Kapitel innerhalb acht Tagen ein Fass Zerbster Bier zur Strafe erlegen soll.“
Rathenow 1633, Matthäus Merian d.Ä. (1620–1650) [Wikipedia, public domain]
Die Stadt Rathenow war zwar durch Stadtmauer und Tore gesichert, schien aber trotz Pestbefalls für Besucher offen gewesen zu sein. Damit die Pest von dort nicht in das Gebiet des Brandenburger Domkapitels eingeschleppt werden konnte, wurde ein Besuchsverbot für die Untertanen des Brandenburger Domkapitels erlassen.
Kaspar Jutte hatte also ein bestehendes Kontaktverbot missachtet und dadurch sein Heimatdorf in tödliche Gefahr gebracht. Seine Strafe entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Zerbster Bier war damals das beste weit und breit, ein Fass hatte etwa einen Wert von 2 Gulden – und wurde von den Domherren ausgetrunken.
Kaspar Jutte war den Brandenburger Domherren kein Unbekannter. Er gehörte 1569 zu den 9 Garlitzer Bauern, die „ohne der Domherren Wissen und Willen gerodet haben“. Die Strafe dafür betrug 1 Wispel Hafer, für jeden.
Die damaligen Garlitzer Bauern waren wohl nicht sonderlich beliebt bei ihren Nachbarn, denn sie haben im selben Jahr „den Barnewitzern auf ihrem neuen Land“ das Getreide abgeweidet, wofür sie „aufs neue 10 Scheff. Roggen erlegen und bezahlen“ mussten.
„Unser“ Kaspar Jutte war seit 1569 einer der vier Schöffen im Dorfgericht und hätte es eigentlich besser wissen müssen: Wann zu roden ist, wo man sein Vieh weiden darf, wann man Kontaktverbote einhalten muss…
Er befand sich aber in „guter“ Gesellschaft, denn am 20.Februar das Jahres 1583 wurde auch sein „Vorgesetzter“, der Schulze von Garlitz Dionys Kruse zu einer Strafe verurteilt, weil er die Getränke für die Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, die er weiterbefördern sollte, einfach stehen ließ und sich nicht darum kümmerte.
Wer also daran gewöhnt ist, lediglich seinen eigenen Interessen nachzugehen und das Gesamtwohl zu missachten, findet auch nichts dabei, die Allgemeinheit zu gefährden, damals wie heute.
Ich freue mich, dass wir zu den „Guten“ gehören, die jene nicht vergessen, welche neben uns wohnen.
Unsere drei Köpenicker Enkel sind in den guten Händen unserer Kinder, und wir auch. Danke.